Kaum noch vorstellbar: eine Musikwelt ohne Spotify, Netflix und CDs. Dafür gab es in den 80er und 90er Jahren Kassettenrecorder, kleine Klappboxen mit Kassetten für 60 oder 90 Minuten Musik und gelegentlich auch mal ein ärgerlicher Magnetbandsalat. Es wurde aufgenommen, getauscht, gehört, eine ganze Szene von Produzenten und Abnehmern entstand.
Henryk Gericke, Herausgeber der Tape- und Vinyl-Serie „tapetopia – GDR Undergroundtapes“ und damit bester Kenner dieser Magnetband-Szene, erinnert sich: „Die Underground-Tape-Szene der 1980er Jahre funktionierte in den Sound-Systemen Ost und West ähnlich und war doch grundverschieden. Man produzierte beidseitig für einen Zirkel Gleichgesinnter und weitgehend nonkommerziell. Die einen bewußt am Markt vorbei, die anderen ohne Vorstellung vom Markt. Ideenmäßig bestanden zwischen den Klangwelten durchaus Brücken, die Produktionsbedingungen dagegen leiteten sich aus getrennten Ideologiekreisläufen zweier Welt-Ismen ab.
Für die Szene im Osten fehlten oft notwendige technische Voraussetzungen für eine Produktion und es war schlichtweg unmöglich, Tapes in relevanten Auflagen zu kopieren. Kassetten-Recorder made in Eastgermany – wie Stern, Sonett, Minett, Anett, Babett oder das Tapedeck des staatlichen Herstellers RFT – waren exorbitant teuer und einer launischen Volkswirtschaft entsprechend selten im Angebot. Tapedecks aus dem Westen wirkten wie Bronze in der Steinzeit und wurden hoch gehandelt. Man musste aber über Westgeld verfügen und private Handelsrouten in die Westsektoren Berlins oder Deutschlands unterhalten, um Equipment und Tapes über die Grenze zu schmuggeln. Tapes in größeren Stückzahlen und über gewisse Valuta-Grenzen hinaus wurden teils als ‚Devisenvergehen‘ geahndet und von Kripo wie Staatssicherheit strafrechtlich verfolgt. Tapes zu veröffentlichen ohne staatliche Genehmigung und an der ideologischen Verwertungskette vorbei war generell nicht-legal. Dennoch entstanden DDRweit etwas mehr als 200 Moonshiner-Tapes in einem Zeitraum von 1984-89. Mit den im Westen Deutschlands produzierten ist das nicht zu messen. Dafür brachten es einige Tapes, zumeist in Kleinstauflagen von 20 bis 50 Exemplaren, zu einem legendärem Ruf im Kanon der DDR-Subkultur – wie die sogenannte ‚Rotmaul‘-Kassette der Freakwave-Formation Ornament & Verbrechen oder ‚AIDS delikat‘ der Noise-Kombo Klick + Aus.“
Henryk Gericke stellt anhand von Hörbeispielen dieses TAPETOPIA, den Kassetten- und Musikunderground in der DDR von 1980-90, vor.
HENRYK GERICKE produzierte Bücher, Ausstellungen und einen Film zum Thema Subkultur in der DDR, zuletzt das Buch “Tanz den Kommunismus – Punkrock DDR 1980 – 1989” (2024 ). Gericke gibt die Tape- und Vinyl-Serie tapetopia – GDR Undergroundtapes heraus.