13. Juli | 19 Uhr : Martin Gross + Karl Schlögel „Ein Winter in Jakuschevsk“

Der Journalist und Germanist Martin Gross versuchte über viele Jahre hinweg, Kooperationen zwischen Universitäten in der EU und Russland anzubahnen. Er knüpfte Kontakte und organisierte Austauschs- wie Besuchsprogramme. In seinem ak­tuellen Roman „Ein Winter in Jakuschevsk“ berichtet er über das Scheitern seiner Projekte. Das Buch wurde durch den rus­sischen Über­fall auf die Ukraine in tragischer Weise zu einem Buch der Stunde. Teilnehmend und mitfühlend schildert Martin Gross den sibirischen Alltag der krisengeplagten Bevölkerung, die sich immer wieder durchbeißt, Not­lösungen organisiert, Kränkungen einsteckt, Ansprüche und Träume auf­ge­ben muss. Er erzählt von Verzweiflung und Galgenhumor, von Of­fenheit und Argwohn – und von der Liebe, die ihn auch in Sibirien findet. Aus der politisch scheiternden Ost-West-Partnerschaft wächst eine tiefe Zuneigung zu den Menschen, die ihn begleiten. Eine Mitmenschlichkeit, wie wir sie in den aktuellen Zeiten der Grausamkeit so dringend benötigen, um nicht der Blindheit des Krieges und den Verallgemeinerungen von „Freund“ und „Feind“ zu erliegen.

„,Ach du grässlicher Mensch, das ist doch eure verfluchte Marktwirtschaft, nach der hier jetzt alles läuft: Geld, Geld, Geld. Jeder rafft, so viel er kann. Das fängt ganz oben an, bei den Politikern. Und ganz unten müssen die Bauern ihre letzten Schweine schlachten. Die Rentner verkaufen irgendwelchen Krimskrams auf der Straße, und wer keine Arbeit hat, besäuft sich und tyrannisiert zuhause die Familie.‘ Hinterher denke ich: Wahrscheinlich hat Olga ja recht. Das hier ist die Monster-Version der Freiheit: ‚Wenn ihr frei sein wollt, müsst ihr liberalisieren, privatisieren, deregulieren, kommerzialisieren!‘ Und das machen sie jetzt auch hemmungslos, die ehemaligen Kader. Vermutlich werden die Russen noch in 50 Jahren ‚westliche Werte‘ verbinden mit der Raffgier, die jetzt das Land ruiniert. Und nach diesem ganzen Desaster hätte ich auch kein besonderes Vertrauen mehr in den Westen.“
 
Karl Schlögel, Osteuropahistoriker und Publizist, wird als ausgewiesener Russland- und Ukrainekenner die Buchvorstellung moderieren. Soeben ist er mit dem mit 100.000 Euro dotierten Gerda Henkel-Preis ausgezeichnet worden. Das Urteil der Jury: „Karl Schlögel zeigt auf eindrückliche Weise, dass historische Urteilskraft und stetige kritische Selbstreflexion unerlässlich sind, wenn wir die Konflikte der Gegenwart angemessen verstehen wollen“. Zu seinen Büchern meint die Jury: „Seine Werke verbinden persönliche Reiseerfahrungen und Alltagsbeobachtungen mit profundem historischem Wissen und scharfsinniger Analyse“, das mache die Dinge besonders anschaulich.
 

 
MARTIN GROSS, geboren 1952 im Landkreis Calw, studierte Germanistik an der FU Berlin und war dort von 1981-91 Lehrbeauftragter, bevor er frei­er Mitarbeiter verschiedener Feuil­le­tons wurde. Fast zwanzig Jahre lang organisierte er internationale wis­sen­schaftliche Projekte mit russischen und indischen Partnern, zahlreiche Auf­enthalte in Sibirien. Wissen­schaft­licher Mit­arbeiter an den Universitäten Lü­ne­burg, Hannover und Köln.
Seit 2015 engagiert sich Martin Gross in der Flüchtlingshilfe.
 
Foto: Heike Huslage-Koch

KARL SCHLÖGEL, Jahrgang 1948, hat an der Freien Universität Berlin, in Moskau und Leningrad Philosophie, Soziologie, Osteuropäische Geschichte und Slawistik studiert. Bis 2013 lehrte er als Professor für Osteuropäische Geschichte an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder. 2016 erhielt er für „Terror und Traum“ (Hanser, 2008) den Preis des Historischen Kollegs. Er publizierte zahlreiche Bücher, darunter „Der Duft der Imperien“ (2020), „Entscheidung in Kiew. Ukrainische Lektionen“ (2022) und „American Matrix“ (2023). Karl Schlögel lebt in Berlin und in der Uckermark.

 

 
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