18. November – 19 Uhr | Andreas Koziol (1957-2023) und Bert Papenfuß (1956-2023)

Menschenkunde, Sÿstemrelevanz und Lumpenïntelligenz Continua

Ein Abend in Text, Gespräch, Ton und Video für die Autoren, Dichter, Übersetzer, Kneipenspezialisten und Sprachgenies im Weltgetriebe Andreas Koziol (1957-2023) und Bert Papenfuß (1956-2023) – erinnert, gelesen, aufgelegt und dokumentiert von den ehemaligen Mitstreitern und Wortkomplizen Peter Böthig, Henryk Gericke, Klaus Michael, Jürgen Schneider und Lothar Fiedler (Musik) am 18. November um 19 Uhr in der Lokalisation Deutsche Eiche Warnitz 


Andreas Koziol  „… war einer der bemerkenswertesten deutschen Lyriker. Als Persönlichkeit zeichnete sich Andreas Koziol durch Noblesse, einen gelassen-genauen Blick auf die Mitwelt und hintergründigen Humor aus. Eigenschaften, die ihn prädestiniert erscheinen ließen für konzis hingetuschte Porträts von Dichterkollegen und -kolleginnen als Tierfigurationen, die 1991 unter dem Titel ‚Bestiarium literaricum‘ erschienen. … Andreas Koziol, 1957 in Suhl geboren und nun am 16. Mai nach kurzer schwerer Krankheit gestorben, stieß nach abgebrochenem Theologiestudium Mitte der achtziger Jahre zur inoffiziellen Berliner Literaturszene, gemeinhin als ‚Prenzlauer-Berg-Connection‘ (Adolf Endler) tituliert. … Koziols Dichtung ist einerseits exemplarisch für einen gemeinsamen poetologischen Ansatz in dieser Zeit, die entleerten Floskeln der Herrschaftssprache nicht mehr in ihren Erscheinungsformen anzugreifen, sondern ihre Mechanismen spielerisch zu unterlaufen. In einem 1987 geführten Gespräch mit Egmont Hesse fand Koziol dafür die Kurzformel vom ‚consens durch nonsens‘. … Als symptomatisches Beispiel sei das Gedicht ’nekrolog auf eine anrüchige wegzehr‘ aus dem Jahre 1989 angeführt:
‚mutterkorn und apfelstich und mohn / raunten uns elysische sibirien / manchmal war die freiheit kein phantom / doch die mauer lyrischer delirien // wanderte im schnee vom kalten krieg / („in der tat ein eigentümlich holz“) / wuchs aus schwarzer rotstiftpolitik / um das ministerium des golds // flüsterpropaganda war berauschend / gevatter staat ist nicht die beste droge / sagtest du das wär nicht dein jahrtausend? / nemo fällt vor staunen von der loge‘.“
(Peter Geist / Tagesspiegel)

„Der Dichter Andreas Koziol hat einen Namen und ist doch ein unbekannter Meister. Nun, nach seinem Tod, wird sein Werk den Schriften der großen deutschen Dichter seiner Generation sowie ihrer Mütter und Väter zur Seite gestellt. Jedenfalls den Werken ostdeutscher Dichter. Jenseits dieser Grenzziehung ist Andreas Koziol nur wenigen Lyrik-Adepten bekannt.
Der Name Andreas Koziol steht an prominenter Stelle im Register der künstlerischen Gegenkultur Ostberlins in den 1980er Jahren. Als Dichter und als Mitherausgeber der eigenmächtig verlegten Literaturzeitschrift Ariadnefabrik war Koziol Teil eines losen, doch weitgehend in sich geschlossenen Lyrikzirkels von formvollendeten Systemsprengern. Als Verteidiger von Umgangsformen blieb er außerhalb dieses Kreises, eine Außenstelle, die gewissermaßen im Zentrum stand. Dieser nachdenkliche Moralist – der nicht im Verdacht steht, je ein Moralapostel gewesen zu sein – schien selbst innerhalb einer Schar von Outsidern noch eine singuläre Erscheinung. Die Poesie Koziols schwamm nicht gegen den Strom, sie kreuzte lieber mit den verschiedensten Strömungen. Ihre Zeilen waren Lebensnerven, welche durch die Tapetentüren von Innenwelten führten. Dort begegneten sie den Geistern einer im ideologischen Strohfeuer verbrannten Sprache, welche als Zunder für subkulturelle Gegenfeuer zum Leuchten gebracht wurde. Andreas Koziol wusste ein Kaderwelsch ins Sibyllinische zu wenden, so ging der sozialistische Realismus in einen quasi-sozialistischen Spiritismus auf, der durch jede Formalismusprüfung gefallen wäre. Vielleicht war Andreas Koziol der letzte Barockdichter, seine Poesie ein Strauß an Stilblüten, deren Artenvielfalt er in Reime band. So tarnte sich eine avantgardistische Diktion mit Tradition in einem Stoffwechsel aus Phrase und Paraphrase, unterschwellig überzogen von einer subkutanen Ironie, welche um ihre Melancholieanteile wusste, denn der Schelm hinter allem war kein trauriger Clown.“ (Henryk Gericke / faustkultur.de)

Bert Papenfuß „war Dichter, Avantgardist und Anarchist, vor allem und in Allem: unangepaßt, in seinem Denken und folglich auch in seinen Texten: Bert Papenfuß.“ (Wolfram Pilz / NDR-Kultur)

„Um seine Texte zu den Leuten zu bringen, trat Bert Papenfuß mit Rock- und Punkbands auf und schrieb für diese. Er kooperierte mit Malern und bildenden Künstlern. Papenfuß übersetzte, beispielsweise aus dem Norwegischen, mit der Lyrikerin Tone Avenstroup. Der Norden hatte es ihm angetan, der Raum, der bei Mecklenburg beginnt. Er liebte das Meer, speziell das zwischen Helsinki und St. Petersburg. Vielleicht kam die See seinem barocken Wesen, das sich in seinen Texten spiegelt, nahe. … In den letzten Jahren verwendete er zwei Pseudonyme: Bęrt Elsmann-Papenfuß, „ich wollte, dass einmal auf meinem Buch Bertelsmann steht.“ Das war sein Humor. Das Anagramm Sepp Fernstaub verwies auf seine Liebe zur Science-Fiction-Literatur. … ‚Wir brauchen Ideen gegen Interessen, um Kultur gegen Konsum zu setzen. Kultur hat Ecken und Kanten, Konsum folgt Algorithmen. Je digitaler, desto scheiße; es ist der Draht zur Welt, der uns vom Leben abhält. […] – Und was wir brauchen, können wir nur selber schaffen‘.“ (Robert Miessner / Taz)

„Das Motto für das wilde, unter seinem Mythos heute ächzende Neunziger-Jahre-Berlin wurde schon 1985 gefunden – natürlich im Osten: ‚Als Erleben Wirklich Erleben Meinte Weil Blosses Erleben / Mehr Bedeutete Als Nur Erleben Als Man Sich So Zwischen / Himmel & Erde Traeumen Liess Als die Tueren Offen Standen‘. Ein Dichter als Seher, mal wieder … Bert Papenfuß-Gorek wurde in den Achtzigern zu einem Fixpunkt jener Künstlerszene in Prenzlauer Berg mit ihrer legendären Dichterballung, mit Sascha Anderson, Adolf Endler, Elke Erb, Jan Faktor und vielen anderen, Berühmten und Vergessenen. …  Nach 1989 … kreierte (er) in seinen rauch- und rauschgeschwängerten Kneipen jenes wirkliche Erleben neu, in der Kontinuität der unkäuflichen Achtziger. Wer nicht im Torpedokäfer diskutiert hat, wer nicht in der Morgendämmerung aus dem Kaffee Burger auf die Torstraße taumelte, wer nicht in der Rumbalotte Continua kostbare Lebenszeit sinnvoll verplemperte, der hat Berliner Jahrzehnte sinnlos verpasst.“ (Alexander Camman / ZEIT)

Bert Papenfuss „setzte alles daran, die Verhältnisse im Namen einer Freiheit aufzusprengen, die sich allein im Widerstand gegen den Vater und die Verhältnisse erfahren konnte: im Rausch, in der Dichtung, im Rausch der Dichtung. Papenfuß wurde ein Zentralgestirn jener Lyrikszene vom Prenzlauer Berg, die unter den Augen der Stasi inmitten des betongrauen Sozialismus ihren Anarchismus zelebrierte, irgendwo zwischen permanentem Linksabweichlertum, Situationistischer Internationale und Bohème-Gehabe. Das Ganze war kein politisches Programm, es war eine Haltung. ‚Es gibt‘, schrieb er nach der Wende, ‚keine Freiheit / in der Diktatur der Bourgeoisie, / Demokratie genannt, Sklaverei ist gemeint. / Es gibt keine Freiheit / in der Diktatur des Proletariats (…) Die Freiheit wird nicht kommen, / Freiheit wird sich rausgenommen. / Wird Staatsapparaten abgetrotzt, / in die Klos der Büros gekotzt‘.“  (Gregor Dotzauer / Tagesspiegel)

„In dem 1988 bei Aufbau veröffentlichten Papenfuß-Gedichtband ‚dreizehntanz‘ hieß es in der dem Dichter eigenen Orthografie: ‚auf wiedersehen faterland / ich such das meuterland‘. Das hatte er da bereits für sich gefunden. Papenfuß-Gorek interessierte nicht das große Ganze, sondern der Einzelne in seinen Zwängen.“ (Christian Eger / Mitteldeutsche Zeitung)

„Papenfuß umschrieb einst seine Sprache als ‚eine Mischung aus Barock, Dadaismus und Futurismus und das natürlich alles vermischt mit Elementen aus der sogenannten realen Existenz der DDR’…  1998 erhielt Papenfuß in Österreich den Erich-Fried-Preis. Der Schriftsteller Volker Braun würdigte ihn damals als ‚unerhörten Wortverschwörer und Sinnentsteller‘.“ (rbb24 Inforadio)

„Punkdichter und Seeräuber im Geiste von Klaus Störtebeker. 1956 im mecklenburgischen Stavenhagen geboren, wuchs er in ein Land hinein, das, wie Heiner Müller es formuliert hat, ‚Krieg führte gegen lange Haare, Jeans und Jazz‘ … Seine Gedichte waren düster, politisch, kühl und sprachspielerisch; sie erschienen vor allem im Samisdat, in Zeitschriften, die Namen wie ‚Schaden‘ oder ‚Ariadnefabrik‘ trugen und in oppositionellen Kreisen zirkulierten … Sein Ruf verbreitete sich schnell bis zu Suhrkamp nach Frankfurt. Und bis Wien: Bereits vor Erscheinen des ersten Lyrikbandes von Papenfuß, ‚dreizehntanz‘ (1988) im Aufbau-Verlag konstatierte Ernst Jandl: ‚Nur des unbeschränkt verbreitbaren Buches bedarf es noch, um Bert Papenfuß-Gorek als einen Dichter ersten Ranges sichtbar zu machen.'“ (Tom Schulze / FAZ)

„In einer Künstler-Generation der Einzelgänger gehörte Bert Papenfuß zu den verbindenden Gestalten. Er war Dichter und Gitarrist, Sänger und Zeitschriftenredakteur, Veranstalter und Kneipier. Am Sonnabendabend verbreitete sich die Nachricht von seinem Tod; es ist der Abschied von einer Ära.“ (Cornelia Geissler / Berliner Zeitung)

Foto: Klaus Morgenstern / Europeana.eu

ANDREAS KOZIOL geb. am 8. Januar 1957 in Suhl, gest. am 16. Mai 2023 in Berlin. Er war studierter Theologe, überlebte als Briefträger, Totengräber, Heizer und Hauslehrer in der DDR. Mitte der achtziger Jahre Mitherausgeber der Ost-Berliner Untergrundzeitschriften ‚ariadnefabrik‘ und ‚Verwendung‘. 1990 änderte sich alles. Die ‚Ariadnefabrik‘ stellte ihr Erscheinen ein und Koziol gründete mit sechs anderen Autoren den Berliner Autorenverlag „Druckhaus Galrev“. Neben Veröffentlichungen von Gedichtbänden, Künstlerbüchern, in Anthologien und  Literaturzeitschriften entstehen zahlreiche Nachdichtungen, vorwiegend aus dem Russischen und Englischen, u.a. von Gerard Manley Hopkins, John Epstein, Boris Pasternak und Edward de Vere. Als Herausgeber fungierte er u.a. für Uwe Greßmann ‚Schilda Komplex‘.

BERT PAPENFUSS (alias: Bert Gorek, Sinnschrekk Mandragorek, Bert Papenfuß-Mandragorek, Druden-den-Dru Bogorek, Bert Papenfuß-Gorek, bert papenfuß-gorek-papenfuß, Bęrt Elsmann-Papenfuß, Sepp Fernstaub, Tatanka Yotanka) Geb. 11. Januar 1956 in der Reuterstadt Stavenhagen, gest. 26. August 2023 in Berlin. Elektronikfacharbeiter, Ton- und Beleuchtungstechniker, Bausoldat. Seit 1980 freischaffender Schriftsteller. Zusammenarbeit mit bildenden Künstlern und Musikern. Seit 1994 Mitherausgeber der kulturpolitischen Zeitschrift SKLAVEN, ab 1998 SKLAVEN Aufstand, ab 1999 GEGNER, seit 2014 Abwärts!. Von 1999 bis 2008 Mitbetreiber der Tanzwirtschaft Kaffee Burger, von 2010 bis 2015 der Kulturspelunke Rumbalotte continua, seither Arbeit für Rumbalotte Prenzlauer Berg Connection e. V. 1988 N. C. Kaser Preis, Lana, Südtirol. 1991 F. C. Weiskopf Preis, Berlin. 1998 Erich Fried Preis, Wien. 2008 Eugen Viehof-Ehrengabe der Deutschen Schillerstiftung, München. 2016 Karin Kramer Preis für widerständige Literatur, Berlin. 2017 Planet-Lyrik-Mietpreis, Berlin. 

Dr. Peter Böthig Literaturwissenschaftler, Leiter der Tucholsky-Gedenkstätte, Rheinsberg
Henryk Gericke Autor, Herausgeber, Übersetzer, Galerist, Berlin
Klaus Michael Akademie der Künste, Dresden
Jürgen Schneider Übersetzer, Herausgeber, Autor, Künstler, Galerist, Düsseldorf
Lothar Fiedler Gitarist, Berlin

 

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