
Ralf-Rainer Rygulla und Jamal Tuschick stellen in einem Gespräch Rolf-Dieter Brinkmann (1940-1975) und das soeben erschienene Buch „Frank Xerox‘ wüster Traum: und andere Kollaborationen“ mit Manuskriptfaksimiles und bisher Unveröffentlichtem von Brinkmann und Rygulla vor.
Als Postscriptum werfen wir das Buch „Ploog, West End“ mit Texten von und über Jürgen Ploog (1935-2020) in den literarischen Ring.
Rolf Dieter Brinkmann war das Enfant terrible der deutschen Nachkriegsliteratur – und vielleicht ihr einziges Genie, wie Heiner Müller schrieb. Peter Handke meint, dass Brinkmann in die Zukunft weist. Heute ist Rolf Dieter Brinkmann nahezu Kult. Der Dichter, Romanautor, Essayist, Filmemacher, Hörspielautor und Fotograf schockierte seine Zeitgenossen mit wütenden Provokationen. In seinem Werk zeigte er sich radikal und kompromisslos. Doch nicht, weil er per se gern im Widerspruch stand, sondern er reagierte rebellisch, ungeduldig und hochsensibel auf die großen Fragen seiner Zeit. In diesem Jahr hätte Rolf Dieter Brinkmann seinen 85. Geburtstag gefeiert. Wenige Tage nach seinem 35. Geburtstag kam er bei einem Verkehrsunfall in London ums Leben, 2025 ist auch sein 50. Todestag.
Ralf-Rainer Rygulla war nicht nur mit Brinkmann befreundet und wohnte zeitweise sogar mit ihm in einer WG, beide kollaborierten auch literarisch und filmisch eng miteinender. „Mit ihren zwischen etwa 1967 und 1970 (gemeinsam oder auch allein) konzipierten Anthologien und Sammelbänden haben sie Impulse gesetzt, die teilweise bis heute nachwirken. Hierunter sind Fuck You! Untergrund Gedichte (1967) sowie ACID. Neue amerikanische Szene und Silver Screen. Neue amerikanische Lyrik (beide 1969) die bekanntesten Publikationen. Was weniger bekannt ist: Es war Rygulla, der durch seinen dreijährigen Aufenthalt als Buchhändler im ‚Swinging London‘ der 60er Jahre und die dort gemachten literarischen Entdeckungen Brinkmann für diese Texte und Autor*innen begeisterte und somit den Stein für jenen vielfältigen transatlantischen Rezeptionsprozess ins Rollen brachte.“ (Roberto Di Bella auf www.brinkmann-wildgefleckt.de)
Das aktuelle, im Dielmann-Verlag erscheinende Buch „Frank Xerox‘ wüster Traum: und andere Kollaborationen“ enthält Manuskriptfaksimiles und bisher Unveröffentlichtes beider Autoren. Vom Herbst 1969 bis zum Herbst 1970 trugen Ralf-Rainer Rygulla und Rolf Dieter Brinkmann (deren legendäre Beat-Anthologie ACID gerade erschienen war) nicht nur gemeinsam Texte und Bilder US-amerikanischer Autoren und Künstler zusammen, sondern schrieben auch selbst neue Texte, als Duo. Sie wollten die klassische, zumeist verklärte Autorschaft auflösen. Die im Wechsel geschriebenen Texte sollten eine neue literarische Gattung ohne Autor begründen. Gleichzeitig war der Band eine Hommage an die neue Vervielfältigungstechnik der Fotokopie (erster Kopierer von Xerox 1959), mit der alternative Publikationsformen schnell, preiswert und ohne traditionelle literarische Qualitätsfilter hergestellt werden konnten. Hauptteil des Buches bilden Faksimiles der vor 55 Jahren zusammengestellten Manuskripte. Durch anderweitige Arbeiten der beiden, aber auch durch den frühen Tod von Brinkmann sowie die Insolvenz des damaligen MÄRZ Verlags war es nicht zur Edition gekommen. Frank Xerox ist eine ästhetische Entdeckungsreise in eine aufgeregte und euphorische Zeit, in der neue Möglichkeiten des Schreibens Einfluss auf die Literatur nahmen.
Jürgen Ploog, Langstreckenpilot und Autor, bewunderte Rolf Dieter Brinkmann, denn er „ist genau den Weg gegangen, den neben mir auch Fauser & Weissner (jeder auf seine Weise) eingeschlagen haben. Er war dabei radikal & so rücksichtslos, wie es die damalige Umbruchsituation erforderte. Davor ziehe ich noch heute meinen Hut.“
In einem Essay zu Brinkmann mit dem Titel Exhibition des zufälligen Ichs schrieb er: „Mir scheint, dass im deutschsprachigen Raum Brinkmann einer der wenigen Berichterstatter der zweiten Aufmerksamkeit der Epoche des kulturellen Umsturzes war. Wie sonst sollte man seine sinnliche Wut gegen Gott und die Welt verstehen? Es war die Wut der Revolte, die aus ihm sprach, die er hemmungslos spürte, die er auskostete wo es ging. Erbarmungslos rannte er durch die Kaskaden der stürzenden Bilder… ‚In mir zerrissen die Zusammenhänge, Ursache und Wirkung vertauschten sich in mir.‘ … Das Grenzgebiet ist sein Ziel, & er erreicht es, indem er zerschlägt, was nicht schon längst zertrümmert ist. Schnelligkeit ist gefragt, und auch hierzu eine Parallele aus der Gegenwart, wenn Heiner Müller sagt: ‚Man muss sich ungeheuer beeilen, eine Tür einzutreten, bevor sie geöffnet wird.‘
Schreiben wird so zu einer ziellosen Reise, getragen von Bewegung in der Zeit durch einen Raum, in dem sich Welt als Film irritierender Versatzstücke offenbart, eine Scherbenwelt, wie Enzensberger einst sagte, aus der es kein Zurück mehr gibt. … ‚Von Wörtern und Begriffen und nicht nachprüfbaren Aussagen zerfressen, so sehe ich die Gegenwart.‘ Also auch wörtlich dreht sich alles um alles. Ein Trip durch die Hölle? Vielleicht. Für mich ist es mehr eine Reise, die jemand macht, in dem er seine gesellschaftlichen Konditionierungen durchbricht & zusieht, was seine Fantasie, seine Imagination dabei anstellt.“
(in: Facts of Fiction. Essays zur Gegenwartsliteratur)
In dem Buch „Ploog, West End“, herausgegeben von seinem Sohn David Ploog und Wolfgang Rüger, stehen neben eigenen Texten Erinnerungen seiner Weggefährten, darunter Kathy Acker, Jörg Fauser, Alfred 23 Harth, Clemens Meyer, Edo Popovic, Ralf-Rainer Rygulla, Enno Stahl, Jamal Tuschick, Frank Witzel, Wolf Wondratschek u.a.
In seinem Nachruf schrieb Arno Widmann in der Frankfurter Rundschau über Jürgen Ploog: „Er war eine ganz außergewöhnliche Figur. Er sah unglaublich gut aus, war immer adrett angezogen, Dreireiher, Krawatte, Hut. Vom äußeren Erscheinungsbild her passte er überhaupt nicht in die Undergroundszene. Aber er war innerhalb der deutschen Szene eine Legende. Für die meisten in Deutschland, die seinen Namen kennen, steckt er in der Schublade ‚Burroughs-Epigone‘. Und da gehört er definitiv nicht hin. Er war ein Solitär innerhalb des deutschen Literaturbetriebs.“

ROLF DIETER BRINKMANN geboren am 16. April 1940 in Vechta. 1959 Buchhändlerlehre in Essen. Seit Anfang der 60er Jahre Gedichte und Prosa. Zu seinen wichtigsten Werken gehören der Roman „Keiner weiß mehr“, der Briefband „Rom, Blicke“ und der Gedichtband „Westwärts 1&2“. Legendär ist seine zusammen mit Ralf-Rainer Rygulla kompilierte Anthologie »ACID«, die 1969 erstmals eine Auswahl und einen Überblick zu junger US-amerikanischer Literatur brachte. Nach ihm benannt ist das Rolf-Dieter-Brinkmann-Stipendium, in dessen Genuß er, die meiste Zeit seines kurzen Lebens in prekären Verhältnissen lebend und arbeitend, gewiß selbst gerne gekommen wäre. Am 23.4.1975 kam Rolf Dieter Brinkmann nach seinem Auftritt auf einem internationalen Lyrikertreffen in Cambridge/England bei einem Autounfall in London ums Leben, weil er als Fußgänger den Linksverkehr nicht beachtet hatte.
Weitere aktuelle Literatur von/ zu Brinkmann im Jubiläumsjahr:
Brinkmann: Westwärts 1 & 2. Erweiterte Neuausgabe (Rowohlt)
Michael Töteberg, Alexandra Vasa: Ich gehe in ein anderes Blau. Rolf Dieter Brinkmann − eine Biografie (Rowohlt), die erste Biografie des Kultautors, basierend auf unveröffentlichten und bisher nie ausgewerteten Werken und Briefen aus dem Nachlass.

RALF-RAINER RYGULLA, geb. 1943 in Laurahütte, heute Siemianowice Śląskie, bei Kattowitz (Oberschlesien), aufgewachsen dortselbst sowie in Höxter/Weser, anschließend wohnhaft in Essen (1960-63), London (1963–66), Köln (ab 1966) und Frankfurt am Main (1969-2022). Ausbildung zum Buchhändler, Studium an der Pädagogischen Hochschule Köln, DJ, Diskothekenbetreiber, Musiker, Songtexter, Übersetzer und Lektor, Mitherausgeber von Der Gummibaum – Hauszeitschrift für neue Dichtung (1969-1970) und diverser literarischer Anthologien und Kompilationen. Zuletzt veröffentlicht er 2022 gemeinsam mit Marco Sagurna die umfangreiche Anthologie Der Osten leuchtet. Poetische Töne aus Europa, zeitgenössische Gedichte mit Wurzeln in 21 Ländern Ost- und Südost-Europas, sowie eigene Gedichte in verschiedenen Anthologien. Ralf-Rainer Rygulla lebt und arbeitet in Frankfurt/Main
JAMAL TUSCHICK, geboren 1961 in Kassel. Lebte von 1987 bis 2010 als Journalist und Schriftsteller in Frankfurt/Main. Er beteiligte sich fünfundzwanzig Jahre an der Kulturberichterstattung der Frankfurter Rundschau und rezensierte fünfzehn Jahre für die junge welt. Seit 2010 pendelt er zwischen Kassel und Berlin. Als Schriftsteller debütierte er 1999 mit „Keine große Geschichte“ in der edition suhrkamp. Zuletzt veröffentlichte er unter dem Pseudonym Raik Kepler den Roman „Der Maschinenraum des Universums“ bei Palma Publishing Berlin. Tuschick gehört zum Autorenstamm von Faust Kultur.

JÜRGEN PLOOG, geboren 1935 in München, studierte Gebrauchsgrafik und war von 1962-1993 Langstreckenpilot der Lufthansa. 1973 gründete er zusammen mit Jörg Fauser und Carl Weissner die Underground-Literaturzeitschrift Gasolin 23. Nach seiner Pensionierung 1993 widmete er sich ausschließlich der Schriftstellerei. Besondere Bedeutung für sein Schreiben hatten Antoine de Saint-Exupéry und William S. Burroughs, mit dem er auch bis zu dessen Tod 1997 befreundet war. Insbesondere Ploogs Frühwerk steht ganz im Zeichen der von Brion Gysin entdeckten und von Burroughs weiterentwickelten Cut-up-Technik, wovon auch Ploogs Essays in Strassen des Zufalls (1983) und Word is Virus. 100 Jahre WSB (2014) berichten. Er veröffentlichte zu Lebzeiten 36 Bücher. Sein erstes Buch „Cola-Hinterland“ kam 1969 im Melzer Verlag heraus. Jürgen Ploog lebte zuletzt in Frankfurt/Main und Florida. Er starb 2020.