Ottilie von Goethe (1796-1872) wurde durch die Bezeichnung »Goethes Schwiegertochter« eher diffamiert als gewürdigt. Für Forschung und Öffentlichkeit galt sie einzig als Goethes »Vorzimmerdame«. Darstellungen ihres Lebens brachen mit Goethes Tod ab, dabei war sie eine unkonventionelle und selbstbewusste Frau mit einer eigenen Biografie, die Goethe um 40 Jahre überlebte.
Ulrich Janetzki stellt sein Buch „Ottilie von Goethe. Zeugnisse eines Lebens“ vor und gibt endlich der ganzen Ottilie Raum. In diesem Buch spricht sie selbst, eingebettet in das Sittengemälde ihrer Zeit. Sie war Literaturvermittlerin, Herausgeberin, eine technikaffine wie politische Gestalt, Freundin, Mutter, Liebende, Reisende, Dichtende und an ihrer Zeit Verzweifelnde. Zu entdecken ist eine reflektierte, kluge, selbstbestimmte, einfühlsame und spontane Frau, deren Kreativität auch ihren Zeitgenoss:innen Wege zu ungekannter Freiheit eröffnete.
In der Ehe mit Goethes viel konventionellerem Sohn August findet Ottilie keine Erfüllung. Ihre Suche nach Liebe bleibt vor den erbarmungslosen gesellschaftlichen Regeln des 19. Jahrhunderts, die keine Selbstbestimmung der Frau vorsahen, chancenlos, so sehr »Vater« Goethe sie in ihrem Drang auch unterstützte.
Nach Goethes Tod verlässt die dreifache Mutter das allzu enge Weimar. Teils auf der Flucht, teils selbstgewählt sucht sie in neuen Kreisen nach einem erfüllten Leben, doch als Frau bleibt sie von nahezu jedem gesellschaftlichen Wirken ausgeschlossen. Ottilie fördert und vermittelt dennoch Literatur, wo immer sie ihr begegnet. Nachdem sie in Weimar eine literarische Schlüsselstellung eingenommen hatte, verkehren in ihrem Wiener Salon die Autoren des »Jungen Deutschland«, die maßgeblich auf die Revolution von 1848 einwirken.
Ottilie von Goethe war eine moderne Frau, deren Schicksal es war, im falschen Jahrhundert zu leben.
„… gerade die üblen Nachreden und die Gerüchte, die selbst noch eine Annette von Droste-Hülshoff [über Ottilie von Goethe] verbreitete, erzählen von einem gesellschaftlichen Dogma der Rolle der Frau, das bis heute in vielen konservativen Kreisen gepflegt wird – und kluge, gebildete und selbstbewusste Frauen immer wieder der Verleumdung aussetzt … und man darf all die sich widersprechenden Einschätzungen zu Ottilies Leben insbesondere nach Goethes Tod 1832 lesen, und man merkt, dass hier eine im Kern nach wie vor (oder wieder) stockkonservative Gesellschaft versuchte, dieses unabhängige Frauenleben zu diskreditieren.“
(Ralf Julke, Leipziger Zeitung)
Ulrich Janetzki, geboren 1948, promovierter Literaturwissenschaftler, Assistent bei Walter Höllerer an der TU Berlin, leitete von 1986-2014 das Literarischen Colloquium Berlin (LCB). Seither schreibt er und gibt Bücher heraus, u.a.: Ich kieke, staune, wundere mir (Die Andere Bibliothek, 2017); Die Morgendämmerung der Worte. Moderner Poesie-Atlas der Roma und Sinti. (Die Andere Bibliothek, 2018); Entzug. Ende eines Rauchverbots (Sol et Chant, 2022) und als Hrg. Ottilie von Goethe. Zeugnisse eines Lebens (Sol et Chant, 2023) Ulrich Janetzki ist Preisträger des Grimme-Online-Awards 2008.