15. November | 19 Uhr : Thomas Brasch – Alles Glück der Welt. Eine unbekannte Filmkomödie

Thomas Brasch 1993, Quelle: Store Norske Leksikon

Ein Abend für THOMAS BRASCH (19. 2. 1945 – 3. 12. 2001) mit dem Theaterkritiker THOMAS IRMER

Aus den Tiefen der Archive tauchte in diesem Jahr unerwartet eine nicht realisierte, verrückte musikalische Filmkomödie von Thomas Brasch auf. Pünktlich zu seinem 80. Geburtstag. „Alles Glück der Welt“ ist eine scharfe Satire über eine deutsch-deutsche Gesellschaft zwischen zwei Kriegen. Die Filmkomödie wurde nie realisiert. In diesem Jahr wäre der Dramatiker, Filmautor, -regisseur, Lyriker und Übersetzer Thomas Brasch 80 Jahre alt geworden. Er war 2001 viel zu früh mit nur 56 Jahren gestorben. Sein bisher veröffentlichtes zeitkritisches, provozierendes, unverwechselbares Werk wird nun um eine postume Entdeckung ergänzt. Der Theaterkritiker Thomas Irmer erzählt von diesem besonderen Fund der Filmgeschichte und kontextualisiert seine Entstehung. Für Kenner von Thomas Brasch eine Neuentdeckung, für Nochnichtkenner eine wunderbare Einführung in sein Werk.

Auf die Idee für diese schräge Filmkomödie war Brasch 1982 durch eine ebenso schräge Zeitungsannonce im Berliner „Tagesspiegel“ gekommen: »Konservative Familie sucht hübsches Mädchen in Beruf oder Studium, welches Sohn, 19 Jahre, 1,83 m groß, Abitur, aus der Homosexuellenszene ziehen soll. Finanzieller Ausgleich wird geboten.«
Provoziert von dieser Annonce schrieb er das Stück, dessen Handlung er 1999 spielen läßt. Nach 11 Jahren in einem US-Militärinternat kehrt Robert Küssler zurück nach Berlin. Die Stadt liegt jetzt am Meer. Obwohl die Menschen Handschuhe tragen und körperliche Nähe meiden, ist die Atmosphäre sexuell aufgeladen. Es wird reichlich gekokst. Sein Vater, ein hohes Tier in der deutschen Waffenindustrie (Pate: der Industrielle Friedrich Flick), vermutet, dass sein Sohn homosexuell ist. Was für den Patriarchen zum Problem wird angesichts der geplanten Karriere Roberts im Familienunternehmen und den vom Staat finanzierten Gasgeschäften mit »den Arabern«. Als Helfer in der Not kommt Familienfreund und Theaterintendant Sudolf auf die geniale Idee besagter Annonce. Auf die sich Sofie meldet. Ihre Freundin Sibylle hatte ihr zuvor geraten, sich als arme Ostdeutsche auszugeben, das komme an. „Du mußt mal n bißchen Schallplatten hören, da gibt’s doch alle möglichen Sängerinnen, alles, was so hier rübergekommen ist, und so etwas rumjammert, dass sie nicht wissen, wie sie zurechtkommen sollen, dann koofste Dir n paar Bücher, hörst n bißchen DDR-Radio und dann haste das schon druff, dieses ‚Ich bin ja so naiv, was soll ich denn bloß machen!'“. 
Die sich daraufhin anbahnende Liebesgeschichte zwischen Robert und Sofie läßt Thomas Brasch (im Gegensatz zu Romeo und Julia bei Shakespeare) zwar glücklich enden, aber anders als gedacht. „Komödie heißt bei Brasch die Verbindung von Irrwitz mit dem Dunklen, dem Abgründigen und historisch Anspielungsreichen, NS-Vergangenheit und Holocaust spielen mit“, schreibt der Suhrkamp TheaterVerlag. Im Vorfeld zu seinem Stück hatte Thomas Brasch notiert: „Die Komödie um eine ‚Liebesgeschichte unter schlimmsten Voraussetzungen‘ (sexuelle, ökonomische, politische) ist ein Gegenstück zu ‚Romeo und Julia‘, deren Protagonisten am Ende des Feudalzeitalters wenigstens noch die Naivität gegen sich haben.“ 
Dem Filmkomödienmanuskript gab Thomas Brasch elf formstrenge, pointierte, aus dem Geiste des Punk geschriebene Lieder bei, eine Entdeckung für sich. „Alles Glück der Welt“ ist eine starke Vorlage für großes Kino und großes Theater.

THOMAS BRASCH, Dichter, Dramatiker, Filmschaffender und Übersetzer, eine der markantesten Figuren der neuen deutschen Literatur, wurde 1945 in Westow/Yorkshire (England) als Sohn jüdischer Emigranten geboren und starb 2001 in Berlin. Zu seinen literarischen Hauptwerken zählen der Prosaband „Vor den Vätern sterben die Söhne“ (1977), das im selben Jahr erschienene und uraufgeführte Theaterstück „Rotter“ sowie seine seit Mitte der 1960er Jahre entstandene umfangreiche Lyrik. In den 1980er Jahren trat Brasch, der nach Publikationsschwierigkeiten in der DDR 1976 von Berlin-Ost nach Berlin-West übergesiedelt war, auch als Drehbuchautor und Regisseur hervor und wurde hierfür mehrfach ausgezeichnet. Vor allem Braschs Übersetzungen der Werke von Shakespeare und Tschechow werden auf deutschsprachigen Bühnen viel gespielt.

THOMAS IRMER, Theaterwissenschaftler, Dramaturg und Publizist. Bis 1996 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Amerikanistik der Universität Leipzig, danach Chefredakteur von Theater der Zeit bis 2003, anschließend Dramaturg der spielzeit europa bei den Berliner Festspielen bis 2006. Seit 2015 Autor und Herausgeber bei Theater der Zeit, u.a. Castorf (2016) und Luk Perceval (2019). Seit der Januar-Ausgabe 2022 von Theater der Zeit ist er verantwortlicher Redakteur.

 

 

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