„Heutzutage können die Dichter nicht mehr zwischen einer Hecke und einem Drahtzaun unterscheiden, weil sie permanent auf ihr Display starren“ – so Gerhard Falkner, selbst ein Dichter. Er allerdings zog ohne Display in die Natur, genauer in das Biosphärenreservat Schorfheide-Chorin und angrenzende Landschaften. Den daraufhin entstandenen, soeben ganz frisch erschienenen Gedichtband nennt er „Schorfheide – Gedichte en plein air“.
Nahezu alle Gedichte im Band tragen den Titel Schorfheide, selbst wenn sie in Uckermark oder Oderbruch entstanden sind. Schorfheide, der Name ist vor allem symbolisch zu sehen: Er steht für Landschaft, Natur, Nachdenken, Empfinden, Schauen. „Ich bin unten bei den alten Weiden gewesen und habe in den Pfefferminzen gelesen, ich habe in den Blättern der Nesseln geblättert und mich in den Stricken der Clematis verheddert… so traf es sich, dass ich das Wahre gewahrte.“ Als Jugendlicher, aufgewachsen am Stadtrand von Schwabach, hatte Falkner sich das Beizjagen beigebracht und selbst einen Falken besessen. Nomen est omen – Name ist Zeichen. Seitdem ist Gerhard Falkner ornithologisch fasziniert.
„… die Natur ist, man ahnt es, auch nicht mehr die, die sie niemals war, als sie noch von den Romantikern be- und neu geschrieben wurde. Falkner sucht nach neuen Worten und nach neuen Perspektiven, hat aber dabei den Fundus der Literaturgeschichte im Wanderrucksack, während er durch die frische Luft spaziert: ‚Frisch geduscht und gegoogelt trete ich hinaus.‘ So geht das eben heutzutage…“ (SWR-Bestenliste)
GERHARD FALKNER, geboren 1951, zählt zu den bedeutendsten Dichtern der Gegenwart. Er veröffentlichte zahlreiche Lyrikbände, u.a. „Hölderlin Reparatur“, für den er 2009 den Peter-Huchel-Preis erhielt, und zuletzt „Ignatien“ (2014). Für seine Novelle „Bruno“ wurde ihm 2008 der Kranichsteiner Literaturpreis verliehen. Nach Aufenthalten in der Villa Massimo/Casa Baldi und der Akademie Schloss Solitude war er 2013 der erste Fellow für Literatur in der neugegründeten Kulturakademie Tarabya in Istanbul und 2014 Stipendiat in der Villa Aurora in Los Angeles. Seine Romane „Apollokalypse“ (2016) und „Romeo oder Julia“ (2017) standen auf der Long- bzw. Shortlist des Deutschen Buchpreises und wurden von der Kritik gefeiert. Gerhard Falkner lebt in Berlin und Bayern.
(Eine gemeinsame Veranstaltung mit dem UNESCO-Club Joachimsthal)
Beitrag in der Märkischen Oderzeitung, 17. Juli 2919, Seite 20 :
Poetische Wanderungen
Der Lyriker Gerhard Falkner führt in seinem Buch „Schorfheide. Gedichte en plein air“ den Leser durch die Natur
Melzow. „Der Gang aufs Land“ nannte Friedrich Hölderlin eines seiner bekanntesten Gedichte. Es beginnt mit der Aufforderung „Komm! ins Offene, Freund!“, auch wenn der Himmel den Landgänger damals eng umschloss, die Sonne nur wenig glänzte und die Zeit eine bleierne war, wie Hölderlin schrieb.
Mehr als 200 Jahre später zieht Gerhard Falkner, ein fränkisch-berlinischer Dichter, erneut aufs Land. „Frisch geduscht und gegoogelt tret ich hinaus ins Offene“ – die Zeiten haben sich rapide geändert. Seinen nach den zahlreichen Landgängen in das Biosphärenreservat Schorfheide-Chorin und dessen angrenzende Landschaften entstandenen Gedichtband nennt er „Schorfheide. Gedichte en plein air“. Aus der Malerei stammt der Begriff plein air; er bedeutet etwas im Freien, im Außenbereich der menschlichen Siedlungen Geschaffenes.
Nahezu alle Gedichte im Band tragen den Titel Schorfheide, selbst wenn sie in der Uckermark oder im Oderbruch entstanden sind. Schorfheide, der Name ist deshalb nicht nur geografisch, sondern vor allem symbolisch zu sehen: Er steht für Landschaft, Natur, Nachdenken, Empfinden, Schauen. „Ich bin unten bei den alten Weiden gewesen und habe in den Pfefferminzen gelesen, ich habe in den Blättern der Nesseln geblättert und mich in den Stricken der Clematis verheddert… so traf es sich, dass ich das Wahre gewahrte.“
Fasziniert von der Ornithologie
Falkner besuchte erstmals vor drei Jahren die Uckermark – und erlebte „einen Paukenschlag! In der ersten Viertelstunde bereits sah ich einen Schreiadler, danach eine Wiesenweihe, beides seltene Vögel, anschließend Störche und Kraniche.“
Als Jugendlicher, aufgewachsen am Stadtrand von Schwabach, hatte Falkner sich die Beizjagd beigebracht und selbst einen Falken besessen. Nomen est omen. Seitdem ist er von der Ornithologie fasziniert. Angelehnt an den ebenfalls naturinteressierten Johann Wolfgang von Goethe, meint er: „Zwei Seelen wohnen in meiner Brust, eine urbane und eine pastorale.“ Also eine städtische und eine der Hirtendichtung verfallene Seele. Pastor heißt Hirte, hat hier aber nichts mit der Kirche zu tun, sondern bezieht sich auf die ursprünglich griechische, das Schäferleben feiernde Pastoraldichtung, die aus dem 3. Jahrhundert vor Christus stammt. Bekannt wurde später vor allem der Römer Vergil mit seinen Bucolica-Gedichten.
Bezüge zu historischen Dichtern
Bereits 2008 veröffentlichte Falkner den Lyrikband „Hölderlin Reparatur“. Darin kommentiert er Hölderlin, vor allem aber untersucht er die Defekte unserer modernen Zeit. Auch die Schorfheide taugt für den heutigen Dichter nicht mehr als romantische Idylle. Dafür sind der Klimawandel zu nahe und der menschliche Blick auf die Natur oft zu abgelenkt. Falkner schreibt: „Die Stämme stehen gedrängt wie Lettern, nur verstehen wir ihre Schriftzüge nicht“.
Dabei kommt das Wort „Buchstabe“ direkt aus der Natur; die ersten Schriftzeichen wurden aus kleinen Holzstäben, meist aus Buche, geritzt. Und wer heute kennt noch die Uhrzeiten, wann bestimmte Blüten sich öffnen, die einzelnen Vogelrufe, die giftigen oder essbaren Pflanzen, die feinen Anzeichen für Wetterumschwünge? „Das Gras ist ein System wie die Sprache, ein jeder Halm spricht mit“, heißt es bei Falkner.
Der Mensch, vor allem der urbane, ist heute leicht erblindet, weil digital überfüttert mit allerlei Überflüssigem. Was, fragt dieser Gedichtband, bleibt trotz aller Veränderungen notwendig für unser Leben? Durch Anspielungen nimmt Falkner immer wieder Bezug auf historische Kollegen. Er will damit andeuten, dass sich Dichter aus ihrer jeweiligen Zeit heraus schon immer gefragt haben, wie es der Mensch mit der Natur hält.
Gerhard Falkner: „Schorfheide. Gedichte en plein air“,
Berlin Verlag, 128 S., 22 Euro