Das Hörspiel „Mutter haben“ von Ruth Johanna Benrath ist eine Familiengeschichte im Schatten der deutschen Teilung, ein Familien- und Gesellschaftsportrait. Die Autorin stellt ihr Hörspiel, das gerade seine Uraufführung im Bayerischen Rundfunk hatte, in einer Lese-Collage vor und spricht über ihre Arbeit als Hörspielautorin.
Lotte, Mitte 50, liebt ihre hochbetagte, an Alzheimer erkrankte Mutter. Um zu verhindern, dass ihr deren Geschichte mehr und mehr entschwindet, besucht sie sie regelmäßig im Pflegeheim. Bis Corona in ihr beider Leben tritt. Lotte merkt, wie sehr sie an der vorübergehenden Trennung leidet. Zwischen sich immer schwieriger gestaltenden Telefonaten versucht Lotte, die Vergangenheit zu rekonstruieren, der eine tieferliegende Trennungsgeschichte zugrunde liegt: Der Selbstmord der Großmutter, die sich 1961 nach der Flucht aus der DDR nach ihrer Ankunft in Westdeutschland noch im Flüchtlingsheim das Leben nimmt, wurde zum Familiengeheimnis, das die Mutter ihrer eigenen Familie nicht erzählen konnte.
Ruth Johanna Benrath versucht, existenzielle Fragen zu beantworten: Wie ist es, eine Mutter zu haben, eine Mutter zu sein, eine Tochter zu sein? Was ändert sich im Laufe des Lebens, wenn Demenz die Kommunikation, das Weitererzählen schwierig macht? Und was heißt Verantwortung haben, für sich und in der Gesellschaft? Die sich über drei Generationen erstreckende Familiengeschichte gibt Einblicke in das gesellschaftspolitische Klima in DDR und BRD vor und nach dem Mauerbau. Und wieder zeigt sich, dass die Vergangenheit in die unmittelbare Gegenwart ragt.
„Die Autorin Ruth Johanna Benrath wagt zwei spannende Experimente in ihrem Hörspiel ‚Mutter haben‘. Das eine betrifft die Realitätsebene der Geschichte. Abgesehen davon, dass man den Eindruck nie loswird, die Geschichte trage autobiografische Züge, stellt sich innerhalb der Binnenrealität von Mutter haben die Frage: Was sind die Fakten, was sind verzerrte Perspektiven und wo bleiben Leerstellen? ‚Erzählen‘, so Lotte, ‚ist das Füllen von Lücken.‘ Aber wie verbindlich, wie real sind diese erfundenen Tatsachen? Kann es von einer Mutter-Tochter-Beziehung eine erzählte Version geben, in der sich beide Frauen wiederfinden?
Die zweite Versuchsanordnung ist: Auch die Mutter ist eine Tochter ihrer Mutter. In dieser Beziehung der Mutter zur Großmutter gibt es eine noch viel größere Lücke. Denn die Großmutter ist jung durch eigene Hand gestorben. Deshalb weiß die Mutter sehr wenig über sie, was verstärkt wird dadurch, dass sich ein familiäres Schweigen über diese Großmutter ausgebreitet hat.
Auch die Mutter selbst ist längst keine verlässliche Erzählerin ihrer eigenen Lebensgeschichte mehr, da sie an Demenz erkrankt ist. …
An einer Stelle ist von einer ‚Nabelschnur des Erzählens‘ die Rede. Die Geschichte Lottes und ihrer Mutter hat eben keinen Anfang und wird auch kein Ende haben. Weil es Generationen, oder in diesem Fall präziser: Mütter davor gegeben hat und weil weitere Töchter folgen werden. Und alle sind Teil davon.“ (Süddeutsche Zeitung)
RUTH JOHANNA BENRATH, geboren 1966, studierte Germanistik, Philosophie und Geschichte in Heidelberg. Mit dem Cellisten Thomas Böhm-Christl inszeniert sie interdisziplinäre Kunstprojekte und tritt als Duo gezinkte sterne in Berliner Salons auf. Darüber hinaus konzeptionierte sie zusammen mit Anna Opel Audiowalks zu Rosa Luxemburg und Albrecht Haushofer für den Berliner Senat und die Gedenkstätte Deutscher Widerstand. Ihr Werk umfasst insgesamt 12 Hörspiele, 6 Theaterstücke, 3 Romane, 1 Lyrikband, 1 Kinderbuch und 1 Blog-Mitarbeit (www.logbuch-suhrkamp.de).
Preise u.a.: Lyrikpreis München 2021, Hörspiel des Jahres 2019, Frau Ava Literaturpreis 2011. Ihre jüngste Veröffentlichung ist das Hörspiel Mutter haben (Regie Christine Nagel, Ursendung Bayrischer Rundfunk 2024).
Ruth Johanna Benrath lebt in Berlin und in der Uckermark.